Der weltgeschichtliche Ablauf:
Prüfstein für die Auslegung der Bibel? / Replik Ernst Panzer 00, 2000-10-09
Bei meiner vierzigjährigen Beschäftigung mit dem prophetischen Wort habe ich
herausgefunden, daß das prophetische Wort in seiner Deutung nur einen einzig berechtigten
Kritiker hat und das ist der welt- und kirchengeschichtliche Ablauf. Diesem haben wir uns bei
aller umfassenden Bibelkenntnis immer wieder neu zu stellen und nur so entgehen wir den
Fehldeutungen. Bestätigt es unsere Auffassung, bzw. Deutung, haben wir die rechte Richtung und
können in sie in großer Gewißheit weisen.
(Ernst Panzer / https://www.philadelphia-verlag.com)
Auf den ersten Blick scheinen die obigen Aussagen recht vernünftig und
realitätsbezogen zu sein. Es ist letztlich die normative Kraft des Faktischen, welche allen
Spekulationen und Deutungen ein Ende bereitet und Tatsachen schafft. Dies gilt auf jeden Fall für
die weltlichen Dinge. Gilt das aber auch für göttliche Prophezeiungen?
Jede theoretische Argumentation würde hier unweigerlich durch die persönliche Sicht des jeweiligen
Autors gefärbt sein und daher wollen wir versuchen, uns bei der Analyse an der –
zugegebenermaßen biblischen – Realität zu orientieren.
Versetzen wir uns in die Zeit Jesu und greifen wir einen der Mitglieder des Sanhedrin heraus, der
als Ältester und Schriftgelehrter gemeinsam mit dem Hohenpriester Kaiphas die religiöse Herrschaft
über Israel ausübte. Als Mitglied des Sanhedrins war er gewiss ein Schriftkenner und mit den
Prophezeiungen des Alten Testaments so vertraut wie sonst wenige in Israel.
Und jetzt kommt da
dieser Jesus aus Nazareth und behauptet, er wäre der von den Propheten oft und oft angekündigte
Gesalbte, der Messias, der als König das Volk Israel zur Weltherrschaft führen sollte. Gehen wir
weiter davon aus, dass dieser Schriftgelehrte nicht wie andere Leute im Sanhedrin den Verlust von
Macht und Einfluss zu befürchten hatte und daher auch keiner Intrige oder Verleumdung zugänglich
war.
Dieser Mann beobachtet nun etwa drei Jahre lang den "welt- und kirchengeschichtlichen Ablauf" in
Israel. Am Ende dieser drei Jahre kann er u. a. folgende Schlussfolgerungen über den Nazarener
ziehen:
- Er predigt einen anderen Glauben als den jüdischen. Nicht Aug’ um Aug’,
sondern "liebet eure Feinde".
(Siehe auch den Diskurs 75: "Müssen Christen ihre
Feinde lieben?")
- Er wirkt zwar Wunder, aber das tun andere auch und man weiß nicht aus
welcher Quelle ihre Kraft kommt.
- Er wendet sich gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer und beschimpft
sie als Otternbrut.
- Er gibt sich als Gottes Sohn aus, hat jedoch nicht einmal die Macht, sich
vor den Römern zu schützen.
- Er wird von der Mehrheit der Israeliten – einschließlich des
Sanhedrins und des Hohenpriesters – abgelehnt.
Wenn nun dieser Schriftgelehrte von der Maxime ausgeht, dass "das prophetische
Wort in seiner Deutung nur einen einzig berechtigten Kritiker hat und das ist der welt- und
kirchengeschichtliche Ablauf", muss er aufgrund des welt- und kirchengeschichtlichen Ablaufs
dieser drei Jahre in Israel zwangsläufig zu der Überzeugung gelangen, dass alle jene, welche in
diesem Jesus von Nazareth den von der Schrift vorhergesagten Messias sehen, offensichtlich einer
Fehldeutung aufgesessen sind.
Und wie wir wissen, ist es – objektiv betrachtet – genau diese Reaktion, welche uns auch von Kaiphas,
dem Hohenpriester, in den Evangelien überliefert ist. Es zeigt sich also, dass es gerade
diese vermeintliche kritische Autorität des "welt- und kirchengeschichtlichen Ablaufs" war,
welche diese große Verblendung des Volkes Israel und seiner religiösen Führer bewirkt hatte.
Während die Juden jedoch damals, aufgrund ihres Vergleichs des prophetischen
Wortes mit dem welt- und kirchengeschichtliche Ablauf, zur Überzeugung gelangt
sind, dass dieser Ablauf nicht dem prophetischen Wort entsprach und daher Jesus
als Messias abgelehnt haben, versuchen sie in unserer Zeit umgekehrt, die welt-
und kirchengeschichtlichen Abläufe so zu gestalten, dass sie zum prophetischen
Wort passen.
Einer dieser Versuche, weltliche Ereignisse in die Prophezeiungen der Bibel
hineinzuzwängen, ist die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 als die, von der Schrift
prophezeite "Sammlung des Volkes Israel in sein Land". Dabei betrachtet man
die weltgeschichtlichen Abläufe ziemlich oberflächlich und bildet sich ein Urteil, ohne die
Schrift entsprechend geprüft zu haben. Objektiverweise sei hier erwähnt, dass auch der eingangs
zitierte E. Panzer diese Sichtweise ablehnt.
Wenn wir nun in der Schrift prüfen, finden wir keine einzige Prophezeiung, welche im Zusammenhang
mit dieser Rückführung Israels durch seinen Gott verheißen wurde, die in unserer Zeit erfüllt
worden wäre. Es haben weder die Juden seit dem Jahre 1948 weinend ihren Gott gesucht (Jer 50,4),
noch haben die Nationen die Söhne Israels "in den Armen" gebracht und ihre Töchter "auf den
Schultern" getragen (Jes 49,22).
Im Gegenteil, sie wurden in den 1940er Jahren bei ihren Versuchen
mit Schiffen nach Israel zu gelangen behindert und sie müssen bis heute um dieses Land Krieg
führen und töten und werden getötet. Auch wurde nicht der Heilige Geist über sie ausgegossen
(Joel 3,1) und bis heute hat sich das israelische Volk nicht in seiner Gesamtheit zu seinem Gott
bekehrt (Hes 20,42-44).
Auch ist gerade in unseren Tagen zu erkennen, dass es den in diesem
Zusammenhang verheißenen Frieden für dieses Volk nicht gibt (Jes 60,17; Jer 33,9), geschweige
denn, dass durch diese Sammlung auch die anderen Nationen den Herrn, ihren Gott erkennen und zum
Glauben kommen würden (Hes 36,23-24). Und Letzteres ist ja auch nicht verwunderlich, war es doch
eben nicht ihr Gott, der Israel gesammelt hat, sondern Theodor Herzls Zionisten, welche aus
eigenem, menschlichem Antrieb die Rückführung ihres Volkes betrieben und durchgesetzt haben.
Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: dieses Land gehört den Juden. Es wurde ihnen von Gott
zugeeignet. Doch sie sind von ihrem Gott in der Welt zerstreut worden, mit der Verheißung, dass er
– ihr und unser Gott – sie selbst aus dieser Zerstreuung sammeln und zurückführen wird. Und
wenn man nicht Theodor Herzl als den Gott Israels sehen will, ist dieser Zeitpunkt noch nicht
gekommen. Daher sind auch alle diese Verheißungen nicht in Erfüllung gegangen. Daher wird Israel
in diesem Land auch nicht zur Ruhe kommen. Ja im Gegenteil, Israel wird sich mit seiner Politik in
der Welt immer unbeliebter machen.
Allerdings können wir bei einer Analyse der diesbezüglichen Schriftstellen davon ausgehen, dass es
Israel in einem ersten Schritt gelingen wird, die Palästinenser aus Ostjerusalem auszusiedeln und
zumindest den Tempelberg wieder voll in Besitz zu nehmen. Es sind die Prophezeiungen auf den Tempel,
welche wir sowohl im AT als auch im NT finden, welche zu dieser Annahme berechtigen.
Und im Heiligtum wird stehen der Gräuel der Verwüstung.
Dan 9,27 Er wird aber vielen den Bund schwer machen eine Woche lang.
Und in der Mitte der Woche wird er Schlachtopfer und Speisopfer abschaffen. Und im Heiligtum wird
stehen der Gräuel der Verwüstung, bis das Verderben, das beschlossen ist, sich über die
Verwüstung ergießen wird. Dan 9,27;
Sie schaffen das tägliche Opfer ab und stellen den Gräuel der Verwüstung auf.
Dan 11,31 Und seine Heere werden kommen und Heiligtum und Burg
entweihen und das tägliche Opfer abschaffen und den Gräuel der Verwüstung aufstellen. 11,32
Und er wird mit Ränken alle zum Abfall bringen, die den Bund übertreten. Aber die vom Volk, die
ihren Gott kennen, werden sich ermannen und danach handeln. Dan 11,31-32;
Und von der Zeit an, da das tägliche Opfer abgeschafft wird.
Dan 12,11 Und von der Zeit an, da das tägliche Opfer abgeschafft
und der Gräuel der Verwüstung aufgestellt wird, sind tausendzweihundertneunzig Tage. 12,12
Wohl dem, der da wartet und erreicht tausenddreihundertfünfunddreißig Tage! 12,13 Du aber, Daniel,
geh hin, bis das Ende kommt, und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage! Dan
12,11-13;
Der Gräuel der Verwüstung an der heiligen Stätte.
Mt 24,15 Wenn ihr nun sehen werdet den Gräuel der Verwüstung an
der heiligen Stätte, wovon gesagt ist durch den Propheten Daniel – wer das liest, der merke
auf! Mt 24,15;
Er setzt sich in den Tempel Gottes und gibt vor, er sei Gott.
2The 2,3 Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn
zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offenbart werden, der Sohn des Verderbens.
2,4 Er ist der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so
dass er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott. 2The 2, 3- 4;
Steh auf und miss den Tempel Gottes und den Altar und die dort anbeten.
Off 11,1 Und es wurde mir ein Rohr gegeben, einem Messstab gleich, und
mir wurde gesagt: Steh auf und miss den Tempel Gottes und den Altar und die dort anbeten.
11,2 Aber den äußeren Vorhof des Tempels lass weg und miss ihn nicht, denn er ist den Heiden
gegeben; und die heilige Stadt werden sie zertreten zweiundvierzig Monate lang. Off 11, 1- 2;
Die obigen Texte handeln alle von der Endzeit. Sowohl in Dan 9,27 als auch in Dan
11,31 und 12,11 sowie den ntl. Stellen ist die Rede vom Heiligtum – also vom Tempel in Jerusalem
– und in den Danielstellen auch vom täglichen Opfer, das abgeschafft werden wird. Das "tägliche
Opfer" ist das Morgen- und Abendopfer im mosaischen Gottesdienst und wenn es hier abgeschafft
wird, muss es ja vorher bestanden haben.
Nun kann nach jüdischem Ritus das tägliche Opfer nur auf
dem Opferaltar dargebracht werden und ein Opferaltar kann wieder nur im Tempel stehen. Der Tempel
selbst aber darf nur an jener Stelle des zerstörten Tempels am Tempelberg in Jerusalem stehen, auf
welchem seit 1300 Jahren die Omar Moschee (richtiger: der Felsendom) steht, von wo nach islamischem
Glauben der Prophet Mohammed in den Himmel gefahren ist.
Wenn man nun dieser Interpretation der
obigen Schriftstellen folgt, muss es in der Endzeit wieder einen Tempel in Jerusalem geben. Um
diesen Tempel – den dritten nach dem salomonischen und dem herodianischen Tempel – zu bauen,
muss Israel aber erst den Tempelberg zurückerhalten.
Um nun auf die Rückkehr der Israeliten seit dem Jahre 1948 und die Verwechslung dieses Vorgangs mit
der Sammlung durch Gott in der Endzeit zurückzukommen, lässt sich hier folgendes feststellen:
- Aus den oben dargelegten Gründen kann die Staatengründung Israels im
Jahre 1948 nicht die Sammlung Israels durch seinen Gott in der Endzeit sein. Damit wird aber auch
die, in diesem Zusammenhang gerne angeführte Schlussfolgerung widerlegt, dass wir uns heute bereits
in der Endzeit befinden würden.
- Wir erkennen aber auch, dass das Vertrauen auf den "welt- und
kirchengeschichtlichen Ablauf" als "einzig berechtigten Kritiker" für die Auslegung des
prophetischen Wortes die große Gefahr in sich birgt, dass wir menschliches Tun und Handeln nur
allzu leicht mit dem Handeln Gottes verwechseln.
Damit kommen wir aber zu folgender Schlußfolgerung: während die
Schriftgelehrten zu Zeiten eines Kaiphas versucht haben, den weltgeschichtlichen
Ablauf anhand der Bibel zu interpretieren und zu einem falschen Ergebnis
gekommen sind, versuchen die Zionisten eines Theodor Herzl in unserer Zeit,
umgekehrt, die Bibel anhand des weltgeschichtlichen Ablaufs zu deuten und liegen
ebenso falsch.
Der Grund ist eigentlich ein recht trivialer: sie haben alle die Schrift zu
wenig studiert. Denn tatsächlich werden sich beide Prophezeiungen – sowohl die
Ankunft des Messias als Weltherrscher, als auch die Sammlung Israels in sein
Land – erfüllen. Allerdings weder das eine vor zweitausend Jahren noch das
andere in unserer Zeit, sondern beides zur gleichen Zeit, im Millennium, im
Tausendjährigen Friedensreich des Sohnes Gottes in dieser Welt.
Und nachdem sich dieses Wissen aus Schriftstellen ergibt, welche alle
ausschließlich aus dem Alten Testament – dem jüdischen Tanakh – stammen, wäre es
bei genauerem Schriftstudium auch Kaiphas und seinen Ratsherren schon möglich
gewesen zu dieser Erkenntnis zu gelangen.
Es ist keine Frage, dass echte Prophetie irgendwann einmal zur Realität wird und es
ist auch keine Frage, dass die Gläubigen immer wieder aufgefordert sind, die Zeichen ihrer
jeweiligen Zeit zu prüfen, um zu erkennen, wie weit wir in der Realisierung des prophetischen
Wortes fortgeschritten sind. Aber wir dürfen zu dieser Prüfung gerade eben nicht die
weltgeschichtlichen Ereignisse als kritische Autorität über die Schrift stellen, sondern müssen
umgekehrt, dieses weltliche Geschehen am Wort Gottes prüfen.
Allerdings unter der Voraussetzung, dass wir das Wort Gottes gewissenhaft und eingehend
studiert haben und sichergestellt ist, dass sich unsere Sicht der Dinge auf die Aussagen der
biblischen Propheten gründet.
Wenn das Kaiphas zu seiner Zeit getan hätte, wäre er vermutlich zu einem anderen Urteil gekommen.
Und wenn dies heute die Vertreter der "Sammlung Israels im Jahre 1948" tun würden, würden auch
sie erkennen, dass es für die Realisierung dieser Prophezeiung weit mehr bedarf, als dass ein Teil
des israelischen Volkes einen Teil Israels besiedelt hat und diesen nun seit Jahrzehnten mit
Waffengewalt und vielen Toten auf beiden Seiten gegen die Palästinenser verteidigen muss.
(Siehe auch den Diskurs 08: "Die Sammlung Israels:
bereits seit 1948 oder erst in der Endzeit?")
(Siehe auch den Diskurs 101: "Die "Israelbewegung"
in den christlichen Gemeinden")