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Kriterien und Informationen zur
Beurteilung des "Toronto-Segens". / Ausarbeitung Dr. Andrea Strübind 00, 2001-06-15
Dr. theol. Andrea Strübind 33, ist Pastorin in einer ev.- freikirchlichen Gemeinde
(Baptisten) in München. Bis 1995 war sie Referentin für den Bereich der Freikirchen im
Ökumenisch-Missionarischen Institut Berlin, einer Einrichtung des Ökumenischen Rates Berlin, der
Berliner ACK. Der vorliegende Text basiert auf ihrer Ausarbeitung für die Sitzung der Bundesleitung
des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten) BEFG im Februar 1995.
(Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Erlaubnis der Autorin, der Website https://www.religio.de/Dialog/296/296s18.html
entnommen.)
"Wer über die Lehre Christi hinausgeht und nicht bei ihr
bleibt, der hat Gott nicht; wer bei der Lehre bleibt, der hat den Vater und den
Sohn." (2Jh 9)
Seit Anfang 1994 treten in charismatischen Gottesdiensten spezielle Phänomene auf,
die nach einer bis Anfang 1996 zur Vineyard-Bewegung gehörenden Gemeinde in Toronto, in der diese
Kennzeichen zuerst bekannt wurden, unter dem Namen "Toronto-Segen" zusammengefaßt werden. Ein
weiterer Zweig dieses "Aufbruchs" entstammt der neo-charismatischen Bewegung in Argentinien.
Als
Wegbereiter des Toronto-Segens werden die einflußreichen charismatischen Prediger
Benny Hinn (US),
Claudio Freidzon (Argentinien) und Rodney Howard Browne (Südafrika) angesehen. Hinn und Browne sind
Vertreter der auch in charismatischen Kreisen umstrittenen "Wort-des-Glaubens-Theologie"
(vgl. BERLINER DIALOG 1 95).
Ausgangspunkt war die Übertragung dieses Segens auf den Gründer der Vineyard Christian
Fellowship in St. Louis, Randy Clark (USA), der anläßlich einer Evangelisation eines
südafrikanischen Evangelisten, in deren Verlauf ungewöhnliche Manifestationen auftraten, angeblich
vom Geist berührt wurde. Er nahm den "Segen" mit in seine eigene Gemeinde, von wo aus er auch
auf andere Gemeinden übergriff.
Die Gemeinde in Toronto entwickelte sich in der Folgezeit
regelrecht zu einer Art Wallfahrtsort für Tausende von charismatischen Leitern und Pastoren,
die dort eine "Salbung" übertragen bekommen, um diese für ihre eigenen Gemeinden
mitnehmen zu können. Auch aus der Bundesrepublik machen sich wöchentlich Gruppen von Mitarbeitern
und Pastoren auf den Weg nach Kanada.
Nach einer "Übertragung" durch ein Pastorenehepaar aus London traten auch in Europa die
Phänomene des Toronto-Segens auf. Ein weiteres Zentrum wurde die Holy Trinity Brompton Gemeinde
in London. Auch hierzulande werden in bestimmten Gemeinden im Rahmen von Anbetungsgottesdiensten die
Wirkungen des Toronto Segens mittels Handauflegung durch die Leiter erfahren.
In Berlin traten
z. B. durch Vermittlung des angereisten Freidzon in der Gemeinde auf dem Weg (Wolfhard
Margies) dieselben Phänomene auf. Auf dem Kongreß "Xund ’94" in Bern, auf dem die Heilung im
Mittelpunkt stehen sollte, demonstrierte John Wimber die Wirkung des Segens an einzelnen
Teilnehmern, in dem er sie aufstehen ließ und sich anschließend die spezifischen Phänomene des
Segens an ihnen zeigten, wobei die Betroffenen umfielen.
In der Basileia Gemeinde in Bern,
einem weiteren Zentrum des Toronto-Segens, traten die Phänomene nach der Rückkehr des
Leitungskreises aus Toronto so massenhaft auf, daß der Gottesdienst zusammenbrach und die
Mitarbeiter aufgrund der eigenen körperlichen Manifestationen in der darauf folgenden Woche
arbeitsunfähig waren. Weitere Zentren sind in Frankfurt am Main und Lüdenscheid.
Im November 1994 hielten 40 Repräsentanten charismatischer Organisationen und Gemeinden bei einem
Treffen in Niedenstein bei Kassel in einer Erklärung fest, daß sie den Toronto-Segen als Wirkung
des Heiligen Geistes deuten. Zu den Unterzeichnern zählte neben einigen umstrittenen
Repräsentanten der neo-charismatischen Bewegung – wie Wolfhard Margies ("Gemeinde auf dem Weg"),
Berthold Becker ("Fürbitte für Deutschland") und Walter Heidenreich ("Jesusmarsch")
- auch Heiner Christian Rust (Pastor einer Ev.-freikirchlichen Gemeinde in Hannover).
Die
Zahl der deutschen Gemeinden, in denen die Phänomene des Toronto-Segens auftreten, werden derzeit
auf 200-400 geschätzt. Am 1. und 2. Dezember 1994 trafen sich 400 Pastoren und Mitarbeiter im
Christlichen Zentrum in Frankfurt unter der Thematik dieses Segens. Die Veranstalter rechneten mit
einer Multiplikation der Phänomene durch die Teilnahme an dieser Veranstaltung, da die Wirkungen in
die Gemeinden "mitgenommen" werden könnten. Dabei wurde auf ähnliche Folgewirkungen in
Großbritannien hingewiesen.
o Lach- und Weinkrämpfe
o Ausstoßen emphatischer Laute (Brüllen, Schreien, Knurren,
Stöhnen)
o Krampfartiges Zucken und Zittern am ganzen Leib
o Umfallen ("Ruhen im Geist")
o Tranceartiger Bewußtseinszustand (Ähnlichkeiten mit Trunkenheit)
o Hüpfen und Tanzen
o Überhitzungen des Körpers
o Lähmungen einzelner Körperteile
o Rollbewegungen auf dem Boden
o Schmerzen
Der Toronto-Segen wird nach Angaben der davon Betroffenen in Toronto von angereisten
Leitern empfangen und in die je eigene Gemeinde "importiert" oder durch reisende Mitglieder der
Vineyard-Bewegung vermittelt bzw. übertragen. Einige Leiter sprechen davon, daß der Segen so
ansteckend sei, daß er selbst gegen den Willen des "Trägers" übermittelt werde. Handauflegung
und Gebet sind daher für den Segensempfang nicht obligatorisch.
Die Gegenwart von bereits
entsprechend Gesegneten, von Teilnehmern in Gottesdiensten mit den bekannten Phänomenen und deren
Zeugnisse sind ausreichend, um den Segen auf andere übertragen zu können. Auch an Gottesdiensten
teilnehmende Nicht-Christen können die Phänomene des Toronto-Segens aufweisen. Diese Erscheinungen
treten während des Gottesdienstes auf, etwa beim Singen, Beten, Segnen oder in einer Phase der
Stille. Auch außerhalb des Gottesdienstes werden diese Wirkungen erlebt.
Selbst durch
Zeitungsartikel, die über den Toronto-Segen berichten, sollen die entsprechenden Effekte ausgelöst
worden sein. In der Regel wird der Segen jedoch in einem bestimmten Teil gegen Ende des
Anbetungsgottesdienstes gespendet, indem für die einzelnen Teilnehmer gebetet wird. Der Pastor bzw.
der Leiter und andere Mitarbeiter gehen während eines längeren Segnungsteils (in Toronto ca. 2-3
Stunden) durch den Raum und beten anhaltend für die Anwesenden.
Unter Handauflegung/Berührung wird
um Füllung mit dem Heiligen Geist, um Verdoppelung der Kraft und die Zunahme der Segenswirkung
gebetet. Es werden keine konkreten Gebetsanliegen genannt. Davon zu unterscheiden ist die
Dramaturgie von Massenveranstaltungen. Hier zeigt sich die Praxis schneller, drängender Gebete
durch viele Mitarbeiter unter z.T. wedelnden Handbewegungen, wobei die Betroffenen angeschrien und
durch Gruppendruck suggestiv beeinflußt werden (wie einige selbst später zugaben).
Die auftretenden Phänomene werden von den Betroffenen und den involvierten
Theologen in der Regel als Begegnungen mit dem Geist Gottes aufgefaßt. So wird gesagt, die
Erfahrungen führten zu einer neuen Liebe zu Christus und zu seiner Gemeinde, einer größeren
Wertschätzung der Bibel und einer neuen Freude am Gebet. Menschen würden körperlich und seelisch
geheilt und gereinigt. Seelsorgerliche Prozesse würden intensiviert und beschleunigt.
Bekannte
Leiter sprechen davon, daß sie eine "romantische Liebesbeziehung" mit Christus erlebten. Eine
neue machtvolle Ausgießung des Heiligen Geistes finde in den Versammlungen statt. Eine Zeit der
Erfrischung und Stärkung für die Gemeinde Jesu sei angebrochen. Herausragend sei die neue
Intensität und Quantität der Erfahrungen mit dem Heiligen Geist. Damit ist die Lehre verbunden,
wonach Menschen immer wieder neu mit dem Heiligen Geist getränkt werden müßten.
Die Ereignisse
werden aufgrund von Visionen führender Leiter als Zeichen einer beginnenden Erweckung unter
endzeitlicher Perspektive gedeutet sowie als neue heilsgeschichtliche Epoche, als neues, anderes
Wirken Gottes, als Zeitalter des Heiligen Geistes. In Toronto selbst wird der Segen als eine erste
Welle des Wirkens Gottes gedeutet, die eine Erfrischung für die Christen sei. Die Gläubigen sollen
dadurch für die weiteren heilsgeschichtlichen Ereignisse vorbereitet und gestärkt werden.
In einer
zweiten Phase sollen dann Zeichen und Wunder geschehen, um diejenigen zurückzubringen, die nicht
mehr mit Christus gingen. Schließlich breche eine Zeit an, in der Menschen in großer Zahl zum
Glauben an Christus kommen würden. Der Toronto-Segen sei nicht bereits als Erweckung zu bezeichnen,
sondern als eine Art "Erfrischungsbewegung" zur Mobilisierung der Gemeinden für die vor ihnen
liegende Erweckung.
Der Toronto-Segen als besondere "Missionsstrategie Gottes" stellt eine weitere
Interpretationsvariante dar. Es wird gesagt, Gott könne die von der Aufklärung geprägten Menschen
nur noch durch ungewöhnliche Wirkungen erreichen. So sei der Segen Anzeichen für eine große
Ausgießung des Heiligen Geistes. Zum Teil wird ein Aufbruch erwartet, bei dem vor allem Kinder vom
Heiligen Geist ergriffen werden, wie in Visionen (angeblich) vorausgesehen wurde. Gott nehme einen
neuen Anlauf, um sein Wirken zu zeigen.
Ein Nicht-Ergriffenwerden vom Geist, d. h. das Ausbleiben
von Phänomenen kann schnell als Zeichen der mangelnden Öffnung gegenüber Gott gedeutet werden.
Die von den Gottesdienstteilnehmern oft als lächerlich empfundenen Äußerungen der Betroffenen
werden damit erklärt, daß Gott Humor habe und sich vielleicht humorvolle Dinge ausdenke.
Gleichzeitig fungiere der Segen als eine Kontrolle Gottes, mit dessen Hilfe er die Bereitschaft
prüfe, sich um seiner Ehre willen zum Narren zu machen.
Zu den wenigen Bibelstellen, die von den Anhängern der Bewegung zur Legitimierung
der Phänomene genannt werden, gehören: Die Gottesbegegnung des Propheten Daniel, der auf sein
Angesicht fällt (Dan 10,9. 11. 16-19), das Damaskuserlebnis des Paulus (Apg 9,1-9), das
Offenbarungserlebnis des Johannes (Offb 1,17) und die Verzückung Sauls durch den Heiligen Geist (1.
Sam 19). Daraus ergebe sich, daß die Begegnung mit Gott zum Verlust der Körperkontrolle führen
könne.
Als Massenphänomene tauchten diese Manifestationen jedoch im neutestamentlichen
Gottesdienst nicht auf. Auch wird das Pfingstereignis als Prototyp der Segens-Wirkungen gedeutet.
Damals empfanden Umstehende die vom Geist ergriffenen Apostel als "Betrunkene". Allerdings wird
im Zusammenhang dieser Bibelstelle das Sprachenwunder beschrieben, wonach die zugereisten Festpilger
die Apostel in ihrer Muttersprache reden hörten, während die Ortsansässigen zu eher
despektierlichen Deutungen kamen.
Durch die Predigt der Apostel, nicht durch etwaige äußere
Phänomene, kamen viele Menschen zum Glauben. Der Verlust der Körperkontrolle wird im Zusammenhang
mit Pfingsten nicht erwähnt. Als weiterer Beleg werden Aussagen aus den Abschiedsreden Jesu
angeführt. Dort kündigte Jesu weitere Offenbarungen des Geistes über die Heilsgeschichte an (Joh
16,12-14). Damit habe er eine Wirkungsart des Heiligen Geistes gemeint, die über die in der Bibel
bezeugte hinausgeht.¹) Das krampfartige "Lachen"
wird mit Hilfe von 1. Petr 1,8 erklärt ("Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb…
darum werdet ihr mit unaussprechlicher und herrlicher Freude jubeln").
In der in Kirchen und Freikirchen umstrittenen Frage nach dem Toronto-Segen ist es
notwendig, auf das Gesamtzeugnis der Schrift zu hören. Diese Prämisse halte ich gerade
hinsichtlich unserer Fragestellung für besonders wichtig. Denn es kann hier nicht um den
religiösen Zeitgeist oder konkret darum gehen, ob die Erweckung (endlich) auch in kirchlichen und
freikirchlichen Reihen Raum greift
Vielmehr gilt es zu prüfen, ob der Toronto-Segen und die damit
verbundenen äußeren Phänomene einschließlich der angeblich inneren Wirkungen mit der biblischen
Überlieferung übereinstimmen bzw. hermeneutisch sachgemäß von den entsprechenden Aussagen des AT
und NT abgeleitet werden können.
Maßstab zur Prüfung der Geister können nicht die Erfahrungen, Sehnsüchte und Gefühle einzelner
sein, sondern nur die Heilige Schrift. Jedes bezeugte Geisteswirken muß in einer nachvollziehbaren
Analogie zu dem geoffenbarten Wort Gottes stehen. In der Bibel ist jedoch im Zusammenhang mit dem
Heiligen Geist nirgends die Rede von massenweisem Umfallen, tierischen Lauten, Schreien, Gelächter
und Verlust der Selbstkontrolle. Gottesbegegnungen, bei denen die Betroffenen zumeist aus Ehrfurcht
oder Furcht zu Boden fallen, bleiben im Blick auf das Ganze der biblischen Überlieferung
Einzelereignisse.
Es gibt keine Berichte, wonach ganze Gruppen innerhalb der urchristlichen Gemeinde
davon erfaßt wurden. Wenn die körperliche Reaktion von Propheten und Aposteln beschrieben wird,
stehen Ehrfurchtsbezeugungen vor der Heiligkeit Gottes eindeutig im Vordergrund. Von besonderen
Glücksgefühlen oder inneren Friedenserfahrungen ist nicht die Rede, vielmehr überwiegt die
Erfahrung von Angst und eigener Schuldhaftigkeit (Jes 6,1ff).
Im Zusammenhang gottesdienstlicher Geschehnisse werden die Toronto-Phänomene an keiner Stelle
beschrieben (auch Apg 2 kann nicht für diese Phänomene in Anspruch genommen werden).
Anhänger der "Segens-Bewegung" behaupten angesichts dieses Sachverhalts, daß der Heilige Geist
gegenwärtig in Bereiche hineinführe, die jenseits der Bibel stünden. Die meisten Leiter geben
offen zu, daß biblische Aussagen überschritten werden. Andererseits ist man bemüht, durch -
oftmals skurrile – Zusammenstellungen von Bibelstellen – die Phänomene biblisch zu verankern.
Die
Proskynese (Niederwerfung) vor Gottes Heiligkeit (vgl. Ez 3,23; Mt 17,6) wird bedenkenlos mit dem
"Ruhen im Geist" gleichgesetzt, was exegetisch nicht zu überzeugen vermag. Das Umfallen der
Gegner Jesu (Joh 18,6) und die Offenbarungserzählungen der Vätergeschichten werden rigoros im
Sinne der o. g. Erfahrungen umgedeutet.
Wenn alle Bibelstellen, in denen das Wort "Freude" vorkommt, aufgezählt werden, um die
Lachkrämpfe in Folge des Toronto-Segens als biblisch zu erweisen, so verrät dies exegetische
Naivität. Gleiches gilt für die mit Fleiß betriebene Konkordanzarbeit zum Lexem "Zittern".
Der Hinweis auf Kohelet (Predigerbuch) , der eine Zeit für das Lachen kennt (Pred 3,4) und somit
die neuartigen Lachanfälle rechtfertige, weist auf die theologische Inkompetenz einiger Leiter hin.
Dies führt bis hin zu der spekulativen Behauptung, daß Gott ebenso "emotional" sei wie der
nach seinem Bilde geschaffene Mensch (diese Ableitung ist ebenso stichhaltig wie die Behauptung,
Gott sei fehlbar, weil der Mensch als Sünder sein Ebenbild trage!).
Das Postulat, Gott wirke heute anders als in der Schrift bezeugt, halte ich für die entscheidende
Gefahr, da diese theologische Weichenstellung subjektivistischer Willkür Vorschub leistet. Der
Hinweis auf Joh 16,12-14, wonach Jesus den Jüngern ein weiteres Wirken des Geistes in Aussicht
stelle, das über das in der Schrift geoffenbarte hinausgehe, ist zudem eine klare Fehldeutung.
²)
Jesus spricht in diesem Zusammenhang nicht von außergewöhnlichen Wirkungen des Geistes, sondern
von verbalen Mitteilungen über den Heilsplan Gottes, die durch den Geist nach seiner Erhöhung
geoffenbart und verkündet werden sollten. (Der Bezug auf das noch zu offenbarende "Viele"
öffnet der Indifferenz in hermeneutischen Fragen Tor und Tür.)
Mit der Behauptung, wonach der
Heilige Geist nun in Bereiche hineinführt, die über die Bibel hinausgingen, bzw. eine
Wirkungsweise des Geistes erlebt werde, die nicht in der Bibel bezeugt ist, wird der Boden
reformatorischer Glaubensüberzeugung ebenso verlassen, wie durch die Preisgabe des uns "von
außen" (extra nos) zugesagten Wortes, das durch innere Selbstvergewisserungen ersetzt wird.
Zugleich wird die Bedeutung der Heiligen Schrift als Grundlage für Lehre, Leben und Dienst in Frage
gestellt.
Das vielfältige neutestamentliche Zeugnis über den Heiligen Geist ist darin
stimmig, daß der Geist im Gegensatz zu den Mächten dieser Welt (1. Kor 12,2) Freiheit bewirkt und
nicht in neue Zwänge führt. Der Verlust der Selbstkontrolle ist gerade kein Merkmal für den
Heiligen Geist, im Gegenteil (1. Kor 14,32f). Eine gut bezeugte Frucht des Geistes ist vielmehr die
Selbstbeherrschung (Gal 5,22; 2.
Petr 1,6). "Rationale" Gaben, wie nüchternes Urteilen und
Erkenntnis des Willens Gottes, werden in der Bibel besonders hervorgehoben (Röm 12,2; Kol 1,9f. -
vgl. Jes 11,1-6). Wer um den Geist bittet, bittet zugleich um den Geist der Besonnenheit (2. Tim
1,7). Immer wieder begegnet der Aufruf zur Nüchternheit, zur Prüfung und zur Selbstkontrolle (Apg
26,25; Röm 12,3; 1. Tim 2,9; 2,15; 3,2; Tit 1,8; 2,2-6.12; 1. Petr 4,7).
Keineswegs ist eine neue,
fremdartige Geisterfahrung notwendig, damit der Christ der Erfüllung mit dem Heiligen Geist gewiß
wird. Wer Christus bekennt, hat den durch den Geist präsenten Christus in der ganzen Fülle (Gal
2,20). Der Heilige Geist wirkt im Blick auf das Gesamtzeugnis der Schrift zwar als Urheber der
Freude, nicht aber der ekstatischen Hemmungslosigkeit.
Die Wirkung des Toronto-Segens führt dagegen zum Verlust der Selbstkontrolle. Menschen sind unter
dem Eindruck dieser Phänomene z.T. nicht mehr in der Lage, sich (entgegen ihrem Willen) zu erheben
oder ihr krampfartiges Lachen einzustellen. Die Gefahr der Manipulation und Fixierung auf einzelne
Leiter, die den Geist "freisetzen" können, liegt auf der Hand. Die enthusiastischen Phänomene
tragen eher zur Verunsicherung und Entmündigung des Menschen als zu seiner geistlichen Reife bei.
Die fundamentalen Wirkungen des Heiligen Geistes lassen sich jedoch mit der Trias von 1. Kor 13
zusammenfassen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Geist wirkt den Glauben, schließt uns Gottes Wort auf
und führt dadurch zur Erkenntnis Gottes (1. Kor 2,4f; Eph 1,13-14; Gal 3,14). Der Geist wirkt Liebe
zu Gott, zu seiner Gemeinde und zum Nächsten (Röm 5,5).
Der Geist wirkt Hoffnung auf die Zukunft
der Erlösung (Röm 8,11). Diese geistgewirkte Hoffnung gilt für das individuelle Leben wie auch
für die universale Schöpfung. An diesen neutestamentlich bezeugten Wirkungen des Geistes müssen
die ambivalenten "Früchte" des Toronto-Segens gemessen werden.
Die ausführlichen Bemerkungen des Paulus zum Einsatz von Geistesgaben im Gottesdienst und seine
Zurückhaltung gegenüber ekstatischen Phänomenen sind immer wieder analysiert worden (vgl. 1. Kor
12. 14). Der Apostel verlangt Ehrbarkeit und Ordentlichkeit im Gottesdienst (1. Kor 14,40). Die
Wirkung des gottesdienstlichen Geschehens auf Nichtchristen ist für Paulus von großer Bedeutung
(1. Kor 14,23).
Im Sinne der missionarischen Unanstößigkeit kämpft er gegen die extremen Charismatiker seiner Zeit für einen geordneten und erstaunlich "vernünftigen" Gottesdienst.
Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens (1. Kor 14,33. 40). Paulus lehnt
eine zentrale Bedeutung ekstatischer Erlebnisse für den Gemeindeaufbau und das Glaubensleben des
einzelnen ab (1. Kor 12). Auch aus missionarischer Verantwortung warnt er vor der Überbetonung
dieser enthusiastischen Phänomene (1. Kor 14).
In den veröffentlichten Berichten über den Toronto-Segen und in weiteren
Verlautbarungen der neo-charismatischen Bewegung (vgl. "Marsch für Jesus") ist wiederholt davon
die Rede, daß eine neue große Geistausgießung bevorstehe bzw. der einzelne Christ ständig neu
mit dem Heiligen Geist getränkt werden müsse. Das NT sieht jedoch in Jesus Christus die
alttestamentlichen Prophezeiungen über den "Geistträger" erfüllt.
Ebenso deutet es die
verheißene Geistausgießung auf alle Menschen mit dem Pfingstgeschehen. Durch Jesus Christus und
sein Versöhnungswerk kommt der Heilige Geist über alle, die an ihn glauben. Alle Glieder der
Gemeinde Jesu Christi haben daher Teil am Erfülltsein durch den Heiligen Geist. Geistesgaben sind
in diesem Zusammenhang nicht Grade einer verschiedenen Teilhabe am Geist, sondern verschiedene
Ausprägungen desselben Geistes (1. Kor 12,4). Die Phänomene des Toronto-Segens können demnach
nicht als zusätzliche Geisterfüllung bezeichnet werden, die anderen Gemeindegliedern fehle.
Es
findet sich im NT kein Hinweis auf eine endzeitliche, neuerliche und neuartige Geistausgießung, die
über das Pfingstereignis hinausgeht. Die Bibel prognostiziert für die Endzeit vielmehr einen
weltweiten Abfall vom Glauben und Verführung. Ausdrücklich wird vor falscher Prophetie sowie
falschen Zeichen, Wundern und Heilsbringern gewarnt (Mt 7,15-23; Mt 24,4-14; 2. Thess 2,9-12; Offb
13; 1. Joh 4,1.6; 2. Kor 11).
Das Wirken des Heiligen Geistes wird im NT (und AT) vorrangig als Geschehen der
Vergemeinschaftung verstanden. Durch den Geist werden die Zugehörigkeit zu Christus und die
Gliedschaft an seinem Leib bewirkt (Röm 8,14). Für die geistgewirkte Verbundenheit der Glieder der
Gemeinde mit Christus und untereinander sind alle Unterschiede des Geschlechts, der Herkunft, der
Nation, der Rasse und des sozialen Standes hinfällig geworden (Gal 3,28).
Die Betonung von
besonderen Gaben des Geistes bzw. einer besonderen "Salbung" kann zur Gefahr für die Einheit
der Gemeinde werden, wenn Elitebewußtsein und geistliches Stufendenken um sich greifen. Diese im
Urchristentum latente Gefahr wurde bereits von den Aposteln mit aller Entschiedenheit bekämpft. Der
Toronto-Segen stiftet in der Christenheit zur Zeit eher Verwirrung und Streit und vermehrt Tendenzen
zur Spaltung und Distanzierung.
Aufmerken läßt der in den Medien bezeugte Umgang mit "Gegnern"
oder Kritikern des Toronto-Segens. Sie werden im Einzelfall durch gezielte Ausgrenzung zur Trennung
von der Gemeinde gedrängt. Die in der Presse aufgegriffenen prophetischen Todesdrohungen (B. Bahr,
Singen) verweisen aufgrund der Analogien zum islamischen Fundamentalismus auf eine bedenkliche
Entwicklung.
Die seelsorgerlichen Probleme sind ebenso evident. Es kommt zu Enttäuschungen bei denjenigen, die
trotz aller Bemühung nicht die o. g. Manifestationen erleben. Zudem ist die Gefahr eines
Überlegenheitsbewußtseins ("geistlicher Hochmut") bei den "Gesegneten" nicht von der Hand
zu weisen. Entgegen dem neutestamentlichen Zeugnis führt der angeblich "geistgewirkte"
Toronto-Segen nicht zur Gemeinschaft, sondern zur Vereinzelung.
Der einzelne Gläubige erlebt eine
überragende Transzendenzerfahrung, die ihn von anderen Christen und Gemeindegliedern unterscheidet.
Der Toronto-Segen ist daher kein Gemeinschaftserlebnis, noch vermittelt er ein Gemeinschaftsgefühl,
sondern dient vornehmlich der "Zurüstung" einzelner.
Paulus kritisiert die Überbewertung der
ekstatischen Gaben in der korinthischen Gemeinde, die lediglich einzelne erbauen, mit dem Hinweis
darauf, daß das Wirken des Geistes stets auf die Auferbauung der Gemeinde zielt. Das neben der
Christusbezogenheit wichtigste Kriterium für das Wirken des Heiligen Geistes ist, daß es "die
Verbundenheit" aller mit Christus und untereinander nicht in Frage stellt, sondern stärkt (W.
Joest).
Religionswissenschaftler und Soziologen stimmen darin überein, daß in unserer
Gesellschaft gegenwärtig vermehrt Transzendenzerfahrungen zur Glaubensvergewisserung gesucht
werden. Sie diagnostizieren eine offensichtliche Anpassung der neocharismatischen Bewegung an Trends
der religiösen Alternativkultur.
Die auftretenden Phänomene erinnern zudem an Ausdrucksformen der
frühen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, aber auch der beginnenden Pfingstbewegung. Sie
selbst sind daher nicht neu, wohl aber ihr massenhaftes, unkontrolliertes Auftreten, das durch die
verantwortlichen Leiter nicht mehr eingeschränkt wird, sondern selbst in den Extremformen als der
besondere Segen" angesehen wird.
In der Erwekkungsbewegung wurden diese Phänomene jedoch nicht zu
einem festen und ritualisierten Bestandteil der Gottesdienste. Sie galten nicht als reguläre
Geisterfahrung. Namhafte Vertreter der Erweckungsbewegung integrierten diese Phänomene nicht
gezielt in ihre Missionsstrategie bzw. ihre Versammlungsvorbereitungen, um der von ihnen erkannten
Gefahr von Spaltungen, Elitebewußtsein und theologischen Irrwegen keinen Vorschub zu leisten.
Mit dem Toronto-Segen verbindet sich eine dem kultischen Denken verhaftete
Anschauung, wonach Gottes Geist bzw. Gegenwart an bestimmte Orte gebunden ist. Diesem Denken
korrespondiert das Bedürfnis nach Sichtbarund Greifbarwerden Gottes an besonders gesegneten Orten
mittels Segensund Vollmachtsübertragung.
Die verbreitete Aussage, wonach der TorontoSegen an
speziellen Orten durch eigens dafür gesegnete Leiter geradezu "anstekkungsartig" weitergegeben
werde, macht die Begegnung mit dem Heiligen Geist zu einem quasi magischen Geschehen, das im
Widerspruch zum freien Wirken des Geistes in der Bibel steht. Besonders problematisch sind die
Wirkungen an Nicht-Christen sowie durch materielle Medien (z. B. Zeitungsberichte über den
Toronto-Segen).
Gleichartige Erfahrungen des Überwältigtwerdens und Kontaktgewinns mit göttlicher
Kraft durch Kontrollverlust über den eigenen Körper und Intellekt finden sich auch in anderen
Religionen und Therapien. Die Verwechselbarkeit der Phänomene sollte zur Vorsicht mahnen. Ekstase
und Enthusiasmus sind, wie die Bibel kritisch urteilt, immer mehrdeutig.
Erst durch die theologische
Deutung werden diese Phänomene als Wirken des Heiligen Geistes verstanden. Es steht in Frage, ob es
sich dabei wirklich um eine Gottesbegegnung oder Begegnungen mit dem eigenen Unterbewußten
(Reinhard Hempelmann) handelt. In Gottesdiensten und Kongressen kann die Faszination der äußeren
Manifestationen auch von den Leitern, die vorwiegend die inneren Wirkungen betonen, nicht geleugnet
werden.
Es fällt schwer, neben gegenwärtig erfahrenen Gefühlen die längerfristigen "Früchte
des Segens" nachzuweisen. Heilungen, die nicht im Vordergrund stehen sollen, ließen sich
ebenfalls erst nach längerer Zeit beweisen. Der Toronto-Segen wird von den Betroffenen darüber
hinaus nicht immer als Bereicherung bzw. Freude erlebt. Seelsorger berichten, daß die Ratsuchenden
auch negative Erlebnisse, Ängste (Schlafstörungen, Depression) und Verunsicherung im Glauben durch
die äußeren Manifestationen erleben.
Mediziner und Psychologen (Streß- und Hypnoseforschung) begegnen ekstatischen
Phänomenen in der neo-charismatischen Bewegung mit durchaus ernstzunehmenden "rationalen"
Deutungen. Eine Beurteilung aus dem medizinischen Bereich soll hier kurz angeführt werden. In
Streßsituationen werden im menschlichen Körper sog. Endorphine ausgeschüttet.
Diese
körpereigenen "Drogen" haben ähnliche Wirkungen wie Opiate, wodurch es auch zum Verlust der
Körperkontrolle kommen kann. Durch Beeinflussung der Gefühle mittels Suggestion können diese
biochemischen Prozesse ausgelöst werden. Die selben physischen und psychischen Phänomene lassen
sich auch in anderen Religionen, Therapien und Kulten aufweisen.
Nach den bisherigen Recherchen, der Prüfung vor dem Gesamtzeugnis der Schrift und
der Wirkung auf die Gemeinschaft der christlichen Gemeinden, kann der Toronto Segen m. E. nicht als
Wirkung des Heiligen Geistes verstanden werden.
(Siehe auch den Diskurs 70: "Die Ausbreitung des
Pfingstgeistes".)
¹) Diese Interpretation des
johanneischen Parakleten zeigt Affinitäten zur Lehre der von der Alten Kirche als häretisch
beurteilten Montanisten im 2. Jahrhundert n. Chr. , denen die neocharismatische Bewegung auch
phänomenologisch in manchem sehr ähnlich ist (vgl. Anm. 2).
²) Vgl. die Ausführungen von H. C. Rust in
DIE GEMEINDE 46/1994, S. 6, der sich damit den Ansichten des Montanismus nähert (vgl. Anm. 1): "In
diesem Wort mag eine biblische Verankerung dafür zu finden sein, daß es Wirkungsweisen des
Heiligen Geistes gibt, die uns in der Heiligen Schrift nur ansatzweise (sic!) berichtet werden,
heute aber eine größere Ausbreitung finden."