Am Beispiel des Apostels Petrus (Joh 3 + 18; Mt
26,75). / Artikel Gerhard Naujokat 00, 2001-11-15
Gefolgschaft liegt nicht in erster Linie
bei uns.
Blinder Eifer ersetzt kein Engagement.
Der nachstehende Artikel ist in der Schrift "Philadelphia Kreuz & Reich"
erschienen und wird hier mit der freundlichen Erlaubnis des Autors veröffentlicht. Gerhard
Naujokat, Pfarrer und Publizist in Kassel, war von 1966 – 1999 Generalsekretär des Weißen
Kreuzes in Deutschland und ist u. a. auch aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Jugend-, Ehe-
und Familienberater 1999 mit dem Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland durch den
Bundespräsidenten ausgezeichnet worden. Neben seiner ausgedehnten Vortragstätigkeit und
Seminararbeit ist Pfarrer Naujokat auch Autor von zahlreichen Sachbüchern.
(Gerhard Naujokat / https://www.philadelphia-verlag.com)
In allen biblischen Darstellungen der Jüngerschaft Jesu erscheint Petrus als der
Stärkste und Vitalste. Wohl nicht gerade der Lieblingsjünger – wie wahrscheinlich Johannes – stand Petrus seinem Herrn doch sehr nahe und folgte am untrennbarsten seinem Weg. Schon bei der Berufung ließ er, kaum dass er sich besann, Fischernetz und Werkzeug fallen und folgte dem Mann, in dessen Spuren er in Zukunft in unbedingtem Gehorsam wandeln sollte. Seine Bekenntnisse waren glaubhaft und ehern: "Du bist Christus, der Sohn Gottes!" (Mt 16,16). Er wollte wissen, von wem Jesus sprach, als dieser den Verrat andeutete. Auf ihn gründete Jesus seine Gemeinde als auf den Felsen, der ihm zum Namen geworden war: >Petrus< vom griechischen petra. Und doch war auch dieser Fels nicht immer fest und verlässlich. Er stürzte und brach, bewies menschliche Schwäche und Unzulänglichkeit.
Dennoch – vielleicht auch gerade deshalb – kann Petrus das Vorbild eines Menschen in den
Fußstapfen Christi sein, kann er uns ermutigen zur Nachfolge, trotz aller Brüchigkeit und
Schwäche, die auch unserem Wesen und unserem Charakter eigen sind. So dürfen wir den Mut haben,
unsere persönlichen Fehler einzugestehen, so wie die Bibel das beschämende Zeichen der Schwäche des Petrus nicht etwa verschönert oder verleugnet, sondern für alle Zeiten aufgezeichnet und uns vor Augen geführt hat.
Petrus ist von sich überzeugt und tief gekränkt, als Jesus diese Überzeugung
nicht teilt. Der Jünger hält von sich nicht für möglich, was dann später Wirklichkeit werden
sollte. Er ist durchdrungen von der Bereitschaft und dem Willen, seinem Herrn in allen Situationen
zu folgen. Im Garten Gethsemane hat allerdings die natürliche Müdigkeit schon den Sieg über seine
Willenskraft zu wachen und zu warten, davongetragen – wie bei den anderen Jüngern auch. Offenbar
ist unsere Fähigkeit zu schwach, Nachfolge durch die Höhen und Tiefen hindurch zu vollziehen. Dies
hängt mitunter von Umständen und manchmal von den Einschränkungen unserer Natur ab.
Lebensangst oder auch nur ein langes zurückgedrängtes Schlafbedürfnis machen uns leicht einen
Strich durch die Rechnung unserer hochgelobten Treue und unseres idealistischen Glaubenssinnes.
Unsere Gebäude – so stolz sie auch sein mögen – brechen schneller in sich zusammen, als wir
meist wahrhaben wollen. Jesus hat das offenbar einkalkuliert und ist vollmundigen Bekundungen
gegenüber – "Ich will mein Leben für dich lassen" (Mt 26,35) – realistisch zurückhaltend,
ja fast beleidigend skeptisch.
Man möchte sich auf die Seite des sich so ehrlich ergebenden Petrus stellen, ihn verteidigen und
sagen: "Herr, du tust ihm Unrecht. Er ist wirklich von ganzer Seele und mit ganzem Herzen von dem
Willen durchdrungen, unbedingt zu dir zu halten und dir zu folgen, wohin es auch sei. An diesem
Willen und dieser Überzeugung, die er noch dazu mit solch einer durchdringenden Kraft vertritt,
kann es keinen Zweifel geben. Er verdient keine Herabsetzung".
Aber die Wirklichkeit behält recht und bestätigt die einschränkende Zurückhaltung, die sich in den Worten Jesu äußert. Sie gilt nicht nur in diesem Falle, sondern erweist sich auch uns gegenüber als gültig. Wir können nur mit Mühen und Schwächen auf dem Weg der Nachfolge bestehen.
Wie um seine angezweifelte Gefolgstreue unter schlagenden Beweis zu stellen,
ergreift Petrus bei der Gefangennahme Jesu das Schwert und erhebt es gegen einen der Knechte. Die
anderen Evangelien lassen den Leser im Ungewissen, wer aus der Jüngerschar zum Gewalttäter wurde.
Nur Johannes nennt ausdrücklich Petrus mit Namen.
Es ist derselbe Jünger, der später seinen Herrn und Meister mehrmals verleugnen sollte. Beide
Ereignisse stehen in einem auffälligen, wenn auch nur scheinbaren Kontrast: Hier der mutige und
beherzte Kamerad, der Jesus gerade am tiefsten Punkt seines öffentlichen Wirkens, als alles
scheitert und er festgenommen wird, die unverbrüchliche Treue hält. Kann man stärker als er in
diesem Augenblick eiserne Entschlossenheit zeigen? Aber Jesus will diese Art Solidarität gar nicht
und befiehlt ihm, sein Schwert in die Scheide zu stecken.
Zu spät. Das Ohr des Malchus ist bereits zu Boden gefallen, sein Name durch dieses Ereignis aber
für alle Zeiten festgehalten. Über ein abgeschlagenes Ohr geht Malchus in die Weltgeschichte ein.
Petrus sorgt für Dramatik. Wo seine starke Erscheinung auftaucht, geschieht etwas. Sie bleibt nicht
ohne Wirkung – ob positiv oder negativ, Hauptsache aktiv.
Es gibt einen Aktionismus der Christen, der meint, er müsse sich in entscheidenden Stunden durch
Tatkraft bewähren. So treten viele Menschen, die sich in der Nachfolge Christi fühlen und dies
auch beweisen wollen, in der Stunde der Herausforderung die Flucht nach vorne an. Sie werden aktiv
– mit welchen Erfolgschancen und welcher Berechtigung auch immer. Sehr oft schadet diese Art
gedankenloser Aktivität mehr, als sie nützt.
So gibt es einen Bekenntnismut, der mehr Gegnerschaft bewirkt als Überzeugung bei dem, der damit in
Berührung kommt. Oder Christen treten zum Widerstand an gegen Mächte, die sie damit nur reizen.
Ist das sinnlos oder erforderlich? Das war die Frage an Christen zu allen Zeiten.
Soll man sich arrangieren, in den Untergrund gehen, sich bekennen und kämpfen oder mit den Wölfen
heulen? In solchen Situationen steht die Gemeinde immer in einem Dilemma zwischen Anpassung und
Widerstand. Aber die geistige Unabhängigkeit und die Überzeugungstreue müssen nicht in jedem
Falle dadurch dokumentiert werden, dass man zum Extremen greift. Meistens ist es klüger, sich
wachen Geistes und konsequent im Glauben zurückzuziehen und abzuwarten.
Das Verhalten in Verfolgungs- und Bekenntnissituationen kann man aber nicht generell im voraus
festlegen und kann im Ernstfall u. U. auch zu außergewöhnlichen Reaktionen führen. Die
Bereitschaft, sein Leben zu opfern (abgesehen von echtem Märtyrertum) sei es durch Gewaltstreiche,
Terrorakte oder Attentate – hat wenig an sich, was die Überzeugungskraft jener Lehre steigern
könnte, für die derartige Aktivitäten ausgeführt werden. Auch Petrus ist in der Gefahr,
blindeifrig nach vorn zu stürzen. Jesus aber kann warten, weil er von seinem dauerhaften Sieg auf
lange Sicht überzeugt ist. Petrus denkt zu unüberlegt und spontan, möchte im Augenblick retten,
was zu retten ist und seinen Zorn verdeutlichen.
Jesus überzeugt solches Handeln nicht. Er weist seinen Jünger in die Schranken. Ein Bekenner
stößt an seine Grenzen, wird in sie zurückverwiesen und muss einsehen, dass er das Falsche getan hat. Dienst für Christus, seinen Herrn und jede Art von Fanatismus passen nicht zusammen.
Und dann die andere Seite des Petrus. Wie ein versprengtes Tier sucht er Anschluss
bei einer anderen Herde. Von seiner eigenen ist nichts mehr sichtbar. Da wärmt er sich lieber am
anderen Feuer, um nicht vor Einsamkeit und Verzweiflung zu frieren. Sein Eifer war wirkungslos
geblieben, die Gegenmacht stärker. Jesus ist verhaftet. Nicht ohne Not hat Petrus seine
Jüngerschaft bestritten. Er zitterte um das eigene Leben. Der Mut vor der Gruppe war verflogen.
Er leugnet wider besseres Wissen und wider alle Überzeugung. Das ist zugleich sinnlos,
wahrheitswidrig und widerlegbar. Ein Jünger wird unglaubwürdig, verliert seine Integrität und
verrät die Sache Jesu. Das ist der Tiefpunkt seines Wirkens. Das Krähen des Hahns ist das schrille
Signal, vergleichbar dem Brandsignal einer Sirene. Dieses hätte das Ende der Heilsgeschichte Gottes
einläuten können, das Scheitern der mehrtausendjährigen Bewegung der stärksten geistigen Macht
der Menschheit.
Aber gerade in der tiefsten Erniedrigung des Versagens, des Verrates, des Scheiterns, das nur noch
durch den Tod auf Golgatha übertroffen wird, pflanzt sich der Keim zu einer neuen großen Zukunft
und zur Offenbarung des Heils. Den Wendepunkt nennt der Evangelist Matthäus (Mt 26,75): "Und
Petrus ging hinaus und weinte bitterlich". Die Entscheidung für seinen Herrn an diesem Tiefpunkt
und die Reue des Petrus waren positiv. Christus streicht das Minus durch und verwandelt es in ein
Plus, was nicht zufällig mit dem Kreuzeszeichen identisch ist.
Damit wird diese Situation beispielhaft für Größe und Grenze jeder christlichen Existenz in den
Augenblicken der höchsten Bewährung und der tiefsten Erprobung. Kein Leben, keine christliche
Existenz gibt es ohne diese Augenblicke des Versagens, an die man selber vorher nicht denken und vor
allem niemals glauben würde. Der Hahn – als sei er das personifizierte Gewissen – krähte
Petrus sein blamables Versagen unüberhörbar ins Bewusstsein.
Die Tränen des Petrus sind Tränen des Herzens. Dann wurde er der Fels. Nach der Überlieferung
starb Petrus viele Jahre später nach segensreichem Wirken den Märtyrertod.
Dass Petrus tief bereuen kann, lässt ihn wieder menschlich und liebenswert erscheinen. Er war kein
hartgesottener Verräter, der sein Fähnchen bedenkenlos nach dem Wind hängt, der sich an die
stärkeren Bataillone anschließt aus berechnender Vorsicht, kein Überläufer, der hartnäckig und
dauerhaft gleich einem Doppelagenten die Fronten wechselt. Nein, es war die nackte Angst, die
den Bekenntnismut raubte und ihn charakterlich scheitern ließ. Diese Lehre war vielleicht gut für
ihn und für die späteren Gemeinden, die auf ihn hörten.
Hätten wir im Ernstfall die seelische und geistige Stärke, allen Herausforderungen standhaft zu
begegnen? Haben wir den Mut, auch der uns umgebenden Mehrheit die Stirn zu bieten und die Wahrheit
zu sagen? Auch einer extremen Fraktion gegenüber mit ihrer Scheinwärme und dem Angebot einer
Ersatzheimat, wie der Zeitgeist oder die Gruppennorm es befiehlt?
Vielleicht sind unsere Herausforderungssituationen gar nicht derart dramatisch. Vielleicht ist das
Heulen mit den Wölfen keine ständige Versuchung. Es ist auch nicht immer die Stunde der
Bewährung. Aber damit, dass man schon im Vorfeld das Schwert erhebt und Aktionismus zeigt, aber das
Wort verschweigt, ist wenig gewonnen. Wir leben hoffentlich in eine Zeit hinein, in der das Wort
eine größere Bedeutung hat als die Waffe. Die Geschichte des Petrus sollte daher in ihrer
Vielschichtigkeit und ihren verschiedenen Phasen ein täglicher Denkanstoß sein. Die heutige
Herausforderung erwartet von uns das rechte Wort zur rechten Zeit! Wir werden nicht täglich direkt
gefragt, müssen aber auf die Frage antworten können: "Bist du nicht einer seiner Jünger?".